Aktuelles zum Verkehrsrecht von Bernd Brutscher (April 2024)

Die Themen:

  • Alleinhaftung des nachrangig Überholenden
  • „Rechts-vor-links-Regelung“ oder Ein- und Ausfahren aus anderem Straßenteil
  • Volle Haftung des trotz Sichtbehinderung links Abbiegenden
  • Autofahrt nach ärztlich verordneter Cannabiseinnahme im Krankheitsfall
  • Strafurteil wegen Trunkenheit im Verkehr: Anforderungen an den Nachweis einer alkoholbedingten relativen Fahruntüchtigkeit

Alleinhaftung des nachrangig Überholenden

Gericht: OLG Brandenburg, Urteil vom 9.3.2023, 12 U 120/22, veröffentlicht in NZV 23, 565

Das Wichtigste in Kürze: 

  • Wer zum Überholen ausscheren will, hat sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist.
  • Das Ausscheren zum Überholen ist dabei rechtzeitig und deutlich durch Benutzung der Fahrtrichtungsanzeiger anzukündigen.
  • Wollen indessen mehrere hintereinander fahrende Fahrzeuge überholen, so hat dasjenige Fahrzeug Vorrecht, das zuerst korrekt dazu angesetzt hat.
  • Unklar ist eine Verkehrslage nämlich nur dann, wenn nach allen Umständen mit einem gefahrlosen Überholen nicht gerechnet werden darf, etwa weil sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende sogleich tun werde. Eine solche Lage liegt indessen nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug langsam fährt. Vielmehr müssen darüber hinaus weitere konkrete Umstände hinzutreten, die für ein möglicherweise unmittelbar bevorstehendes Ausscheren nach links sprechen könnten. Solche Umstände können das rechtzeitige Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers sein.
  • Steht danach ein Verkehrsverstoß des Überholenden nicht fest und ist somit im Rahmen der Haftungsabwägung lediglich die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs zu berücksichtigen, tritt sein Haftungsanteil gegenüber einem Ausscherer vollständig zurück.

Normkette: § 5 Absatz 3 Nummer 1, Abs. 4 S. 1, Abs. 4a StVO

„Rechts-vor-links-Regelung“ oder Ein- und Ausfahren aus anderem Straßenteil

Gericht: OLG Brandenburg, Beschluss vom 6.2.2023, 12 U 177/22, veröffentlicht in NZV 24, 141

Das Wichtigste in Kürze:

  • Andere Straßenteile sind die Flächen, die einerseits nicht der Fahrbahn zugeordnet werden können, andererseits noch als Bestandteil der Straße gelten müssen. Auf ihnen findet zwar rechtlich und tatsächlich öffentlicher Verkehr statt. Sie sind aber nicht für den Durchgangsverkehr bestimmt.
  • Ob die Zufahrt zu mehreren Wohngrundstücken (Stichstraße) als Straße oder nur als anderer Straßenteil zu qualifizieren ist, hängt nicht von dessen baulichem Zustand, sondern von der Verkehrsbedeutung, so wie sie sich aus dem Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale ergibt, ab.
  • Dabei muss diese Verkehrsbedeutung zwar nach außen in Erscheinung treten, wenn daran verkehrsrechtliche Gebote oder Verbote geknüpft werden sollen; dies darf aber nicht dahin verstanden werden, dass damit verbundene Vorfahrtrechte und Wartepflichten nur entstehen, wenn jeder Adressat die dafür maßgebenden Merkmale des Verkehrsweges auch erkennen kann. Schwierigkeiten des Verkehrsteilnehmers bei der Erkennbarkeit der Regelung sind vielmehr im Rahmen der subjektiven Haftungsvoraussetzungen zu berücksichtigen. Allerdings trifft den Verkehrsteilnehmer eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, wenn ihm mangels eindeutiger Kriterien Zweifel kommen müssen, ob ein Verkehrsweg zu der von ihm befahrenen Straße eine vorfahrtberechtigte Straßeneinmündung oder eine untergeordnete Grundstücksausfahrt ist.

Normkette: § 8 StVO

Volle Haftung des trotz Sichtbehinderung links Abbiegenden

Gericht: LG Saarbrücken Urteil vom 10.11.2023, 13 S 33/23, veröffentlicht in NJW-RR 2024, 90

Das Wichtigste in Kürze:

  • Kommt es in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Abbiegen zu einem Zusammenstoß zwischen dem Abbiegenden und dem entgegenkommenden Verkehr, spricht grundsätzlich bereits der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verstoß des Abbiegers gegen § 9 Absatz 3 StVO.
  • Der gegen den Linksabbieger sprechende Anscheinsbeweis kann erschüttert sein, wenn die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass der Vorfahrtsberechtigte bei Beginn des Abbiegemanövers für den Wartepflichtigen noch nicht sichtbar gewesen ist oder zumindest so weit entfernt gewesen wäre, dass der Abbiegende eine Gefährdung als ausgeschlossen erachten durfte. Dies kann grundsätzlich der Fall sein, wenn der Vorfahrtsberechtigte sich mit überhöhter Geschwindigkeit nähert oder wenn er einen Vorausfahrenden, der wiederum links abbiegt, ohne angemessenen Seitenabstand, unter Verlassen der Fahrbahn oder bei unklarer Verkehrslage rechts überholt.
  • Nicht zu einer Erschütterung des Anscheinsbeweises führt der Fall, dass der Linksabbieger lediglich wegen vorhandener Sichthindernisse den Gegenverkehr nicht überblicken kann. Ausgehend davon, dass jeder Linksabbieger sich vor Einleitung des Abbiegevorgangs vergewissern muss, dass er den Abbiegevorgang so rechtzeitig und vollständig abschließen kann, dass er keine Gefahr für den (gesamten) Gegenverkehr darstellt, trifft den Abbieger, dem die Sicht auf den entgegenkommenden Verkehr ganz oder teilweise genommen ist, vielmehr eine gesteigerte Sorgfalts- und gegebenenfalls Wartepflicht.

Normkette: § 9 Absatz 3 StVO; §§ 2, 7, 17 StVG

Autofahrt nach ärztlich verordneter Cannabiseinnahme im Krankheitsfall

Gericht: OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22.08.2023, 1 ORbs 2 SsBs 22/23, veröffentlicht in ZfSch 2024, 114

Das Wichtigste in Kürze:

  • Die Vorschrift des § 24 a Abs. 2 S. 1 StVG gilt nicht, wenn das berauschende Mittel aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt, wobei die Einnahme des Arzneimittels auf einer ärztlichen Verordnung beruhen muss und das Arzneimittel nicht missbräuchlich oder überdosiert verwendet worden sein darf. Dies schließt auch die fahrlässige Tatbestandsverwirklichung aus

Normkette: § 24 a StVG

Strafurteil wegen Trunkenheit im Verkehr: Anforderungen an den Nachweis einer alkoholbedingten relativen Fahruntüchtigkeit

Gericht: BayObLG, Urteil vom 13.2.2023, 203 StRR 455/22, in jurisPR-VerkR 1/2024 Anm. 4

Das Wichtigste in Kürze:

  • Auch wenn es dem Tatrichter mangels (verwertbarer) Blutprobe, verlässlicher Erkenntnis über das Trinkgeschehen oder „beweissicherer“ Atemtests nicht möglich ist, eine annähernd bestimmte Alkoholkonzentration festzustellen, scheidet die Annahme von alkoholbedingter Fahrunsicherheit nicht aus; eine alkoholbedingte relative Fahruntüchtigkeit kann auch ohne die Feststellung oder die Berechnung einer Blutalkoholkonzentration nachgewiesen werden.
  • Erforderlich ist dazu die Feststellung einer - wenn auch nur geringen - Ausfallerscheinung, die durch die Aufnahme alkoholischer Getränke zumindest mitverursacht sein muss,
  • Des Nachweises einer bestimmten Mindest-Atemalkoholkonzentration oder einer Mindest-Blutalkoholkonzentration bedarf es hingegen nicht; die Verurteilung des Angeklagten nach § 316 StGB setzt nicht den sicheren Nachweis einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,3‰ voraus.

Normkette: § 316 StGB

 

 

Aktuelles zum Verkehrsrecht von Bernd Brutscher (Feb. 2024)

Die Themen: Haftungsverteilung bei berührungslosem Unfall - Rettungsgassenbildung auf innerörtlicher Straße, die autobahnähnlich ausgebaut ist - Rückwärtsfahren in der Einbahnstr., , entgegen Verkehrszeichen 220 StVO  - Nachweis einer relativen Fahruntüchtigkeit ohne Blutprobe

Haftungsverteilung bei berührungslosem Unfall

·         § 7 Abs 1 StVG, § 18 Abs 1 S 2 StVG, § 8 Abs 2 S 3 StVO

·         Die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle reicht für eine Haftung nicht aus. Insbesondere bei einem sogenannten "Unfall ohne Berührung" ist daher Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat, mithin, dass das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat.

·         OLG Hamm, Urteil vom 9.5.2023, 7 U 17/23, veröffentlicht in DAR 23, 622

 

Rettungsgassenbildung auf innerörtlicher Straße, die autobahnähnlich ausgebaut ist

·         § 11 Abs 2 StVO, § 38 Abs 1 S 2 StVO, § 49 Abs 1 Nr. 11 StVO, § 49 Abs 3 Nr. 3 StVO

·         Die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse gilt dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 2 StVO nach nicht für den innerstädtischen Verkehr auf einer Bundesstraße. Der autobahnähnliche Ausbau ändert daran nichts.

·         § 11 Abs. 2 StVO benennt lediglich Autobahnen sowie Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung. Die Eigenschaft einer Straße als Autobahn wird nicht durch begriffliche Merkmale, ihren Ausbau oder einen innerörtlichen Verlauf, sondern durch die rechtsgestaltende Wirkung des Verkehrszeichens Z 330.1 der Anlage 3 zur StVO begründet. 

·         Für dieses Ergebnis sprechen auch Sinn und Zweck der Regelung des § 11 Abs. 2 StVO. Die Vorschrift des § 11 Abs. 2 StVO dient dazu, bei Unfällen auf der Autobahn oder Außerortsstraßen den Sicherungs- und Rettungskräften einen schnellen und möglichst sicheren Zugang zu ermöglichen, um einerseits schneller bei Verletzungen tätig werden zu können und andererseits auch sicherzustellen, dass der Unfall und seine Auswirkungen auf den Verkehr schnell beseitigt werden können. Der Seitenstreifen außerorts muss für Pannenfahrzeuge freigehalten werden und ist teilweise zu schmal für Einsatzfahrzeuge. Innerorts und auf einspurigen Straßen wird für die Rettungs- und Polizeifahrzeuge die Fahrt regelmäßig dadurch geschaffen, dass die Fahrzeuge an den rechten Rand fahren. Somit gebietet es auch der Zweck des § 11 Abs. 2 StVO nicht, die Bildung einer Rettungsgasse innerorts verpflichtend anzunehmen.

·         BayObLG München, Beschluss vom 26.09.2023, 201 ObOWi 971/23, veröffentlicht in jurisPR-VerkR 25/2023 Anm. 3

Rückwärtsfahren in der Einbahnstraße, entgegen Verkehrszeichen 220 StVO

·         § 9 Abs 5 StVO, § 10 S 1 StVO, § 41 Abs 1 Anl 2 Zeichen 220 StVO

·         Das Vorschriftszeichen 220 gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. In der Gegenrichtung steht sie dem Fahrzeugverkehr auf der Fahrbahn grundsätzlich nicht zur Verfügung. Auf die Stellung des Fahrzeugs im Verhältnis zur vorgeschriebenen Fahrtrichtung kommt es nicht an. 

·         Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken ("Rangieren") ist - ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße - kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung. 

·         Demgegenüber ist Rückwärtsfahren auch dann unzulässig, wenn es dazu dient, erst zu einer (freien oder freiwerdenden) Parklücke zu gelangen. Entsprechendes gilt, wenn das Rückwärtsfahren dazu dient, einem Fahrzeug die Ausfahrt aus einer Parklücke zu ermöglichen, um anschließend selbst in diese einfahren zu können. 

·         BGH, Urteil vom 10.10.2023, VI ZR 287/22, veröffentlicht in NZV 2024, 92

 

Nachweis einer relativen Fahruntüchtigkeit ohne Blutprobe

·         § 316 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

·         Ob infolge Alkoholgenusses die Grenze zwischen Fahrtüchtigkeit und Fahruntüchtigkeit überschritten worden ist, stellt das Gericht in freier Beweiswürdigung fest. Ist es dem Tatrichter mangels (verwertbarer) Blutprobe, verlässlicher Erkenntnisse über das Trinkgeschehen oder „beweissicherer“ Atemtests nicht möglich, eine annähernd bestimmte Alkoholkonzentration festzustellen, scheidet die Annahme von alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit gleichwohl nicht aus. 

·         Vielmehr besteht in der Rechtsprechung und der wissenschaftlichen Literatur weitgehend Übereinstimmung darüber, dass korrelierend zu einer rauschmittelbedingten Fahruntüchtigkeit eine alkoholbedingte relative Fahruntüchtigkeit auch ohne die Feststellung oder die Berechnung einer Blutalkoholkonzentration nachgewiesen werden kann. 

·         Allerdings bedarf es aussagekräftiger Beweisanzeichen von hinreichender Überzeugungskraft, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des betreffenden Kraftfahrzeugführers alkoholbedingt soweit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig gewesen ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern. Unerlässlich für die richterliche Überzeugungsbildung ist die Feststellung einer - wenn auch nur geringen - Ausfallerscheinung, die durch die Aufnahme alkoholischer Getränke zumindest mitverursacht sein muss.

·         Eine maßgebliche Rolle kommt der festgestellten Fahrweise zu. Beachtlich ist ein Fahrfehler dann, wenn das Gericht die Überzeugung gewinnt, der Fahrfehler wäre dem Angeklagten ohne alkoholische Beeinträchtigung nicht unterlaufen. Die theoretisch stets denkbare Möglichkeit, dass einem anderen Kraftfahrer ein Fahrversagen auch dann unterlaufen wäre, wenn er keinen oder nur unerhebliche Mengen Alkohol genossen hätte, schließt die Alkoholbedingtheit des Fehlers indes nicht aus. Ein Beispiel für eine Fehlleistung mit hoher Aussagekraft in Richtung auf eine alkoholbedingte Fahrunsicherheit ist etwa das Geradeausfahren in einer Kurve.

·         BayObLG, Urteil vom 13.2.2023, 203 StRR 455/22, in jurisPR-VerkR 1/2024 Anm. 4

Haftungsverteilung bei berührungslosem Unfall

·         § 7 Abs 1 StVG, § 18 Abs 1 S 2 StVG, § 8 Abs 2 S 3 StVO

·         Die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle reicht für eine Haftung nicht aus. Insbesondere bei einem sogenannten "Unfall ohne Berührung" ist daher Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat, mithin, dass das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat.

·         OLG Hamm, Urteil vom 9.5.2023, 7 U 17/23, veröffentlicht in DAR 23, 622

 

Rettungsgassenbildung auf innerörtlicher Straße, die autobahnähnlich ausgebaut ist

·         § 11 Abs 2 StVO, § 38 Abs 1 S 2 StVO, § 49 Abs 1 Nr. 11 StVO, § 49 Abs 3 Nr. 3 StVO

·         Die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse gilt dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 2 StVO nach nicht für den innerstädtischen Verkehr auf einer Bundesstraße. Der autobahnähnliche Ausbau ändert daran nichts.

·         § 11 Abs. 2 StVO benennt lediglich Autobahnen sowie Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung. Die Eigenschaft einer Straße als Autobahn wird nicht durch begriffliche Merkmale, ihren Ausbau oder einen innerörtlichen Verlauf, sondern durch die rechtsgestaltende Wirkung des Verkehrszeichens Z 330.1 der Anlage 3 zur StVO begründet. 

·         Für dieses Ergebnis sprechen auch Sinn und Zweck der Regelung des § 11 Abs. 2 StVO. Die Vorschrift des § 11 Abs. 2 StVO dient dazu, bei Unfällen auf der Autobahn oder Außerortsstraßen den Sicherungs- und Rettungskräften einen schnellen und möglichst sicheren Zugang zu ermöglichen, um einerseits schneller bei Verletzungen tätig werden zu können und andererseits auch sicherzustellen, dass der Unfall und seine Auswirkungen auf den Verkehr schnell beseitigt werden können. Der Seitenstreifen außerorts muss für Pannenfahrzeuge freigehalten werden und ist teilweise zu schmal für Einsatzfahrzeuge. Innerorts und auf einspurigen Straßen wird für die Rettungs- und Polizeifahrzeuge die Fahrt regelmäßig dadurch geschaffen, dass die Fahrzeuge an den rechten Rand fahren. Somit gebietet es auch der Zweck des § 11 Abs. 2 StVO nicht, die Bildung einer Rettungsgasse innerorts verpflichtend anzunehmen.

·         BayObLG München, Beschluss vom 26.09.2023, 201 ObOWi 971/23, veröffentlicht in jurisPR-VerkR 25/2023 Anm. 3

Rückwärtsfahren in der Einbahnstraße, entgegen Verkehrszeichen 220 StVO

·         § 9 Abs 5 StVO, § 10 S 1 StVO, § 41 Abs 1 Anl 2 Zeichen 220 StVO

·         Das Vorschriftszeichen 220 gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. In der Gegenrichtung steht sie dem Fahrzeugverkehr auf der Fahrbahn grundsätzlich nicht zur Verfügung. Auf die Stellung des Fahrzeugs im Verhältnis zur vorgeschriebenen Fahrtrichtung kommt es nicht an. 

·         Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken ("Rangieren") ist - ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße - kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung. 

·         Demgegenüber ist Rückwärtsfahren auch dann unzulässig, wenn es dazu dient, erst zu einer (freien oder freiwerdenden) Parklücke zu gelangen. Entsprechendes gilt, wenn das Rückwärtsfahren dazu dient, einem Fahrzeug die Ausfahrt aus einer Parklücke zu ermöglichen, um anschließend selbst in diese einfahren zu können. 

·         BGH, Urteil vom 10.10.2023, VI ZR 287/22, veröffentlicht in NZV 2024, 92

 

Nachweis einer relativen Fahruntüchtigkeit ohne Blutprobe

·         § 316 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

·         Ob infolge Alkoholgenusses die Grenze zwischen Fahrtüchtigkeit und Fahruntüchtigkeit überschritten worden ist, stellt das Gericht in freier Beweiswürdigung fest. Ist es dem Tatrichter mangels (verwertbarer) Blutprobe, verlässlicher Erkenntnisse über das Trinkgeschehen oder „beweissicherer“ Atemtests nicht möglich, eine annähernd bestimmte Alkoholkonzentration festzustellen, scheidet die Annahme von alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit gleichwohl nicht aus. 

·         Vielmehr besteht in der Rechtsprechung und der wissenschaftlichen Literatur weitgehend Übereinstimmung darüber, dass korrelierend zu einer rauschmittelbedingten Fahruntüchtigkeit eine alkoholbedingte relative Fahruntüchtigkeit auch ohne die Feststellung oder die Berechnung einer Blutalkoholkonzentration nachgewiesen werden kann. 

·         Allerdings bedarf es aussagekräftiger Beweisanzeichen von hinreichender Überzeugungskraft, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des betreffenden Kraftfahrzeugführers alkoholbedingt soweit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig gewesen ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern. Unerlässlich für die richterliche Überzeugungsbildung ist die Feststellung einer - wenn auch nur geringen - Ausfallerscheinung, die durch die Aufnahme alkoholischer Getränke zumindest mitverursacht sein muss.

·         Eine maßgebliche Rolle kommt der festgestellten Fahrweise zu. Beachtlich ist ein Fahrfehler dann, wenn das Gericht die Überzeugung gewinnt, der Fahrfehler wäre dem Angeklagten ohne alkoholische Beeinträchtigung nicht unterlaufen. Die theoretisch stets denkbare Möglichkeit, dass einem anderen Kraftfahrer ein Fahrversagen auch dann unterlaufen wäre, wenn er keinen oder nur unerhebliche Mengen Alkohol genossen hätte, schließt die Alkoholbedingtheit des Fehlers indes nicht aus. Ein Beispiel für eine Fehlleistung mit hoher Aussagekraft in Richtung auf eine alkoholbedingte Fahrunsicherheit ist etwa das Geradeausfahren in einer Kurve.

·         BayObLG, Urteil vom 13.2.2023, 203 StRR 455/22, in jurisPR-VerkR 1/2024 Anm. 4

Aktuelles zum Verkehrsrecht von Bernd Brutscher (Mrz. 2023)


Die Themen: Maßgeblicher Zeitpunkt einer unklaren Verkehrslage bei dem Überholen einer Fahrzeugkolonne - Gefährdung „anderer Verkehrsteilnehmer“ bei Fahrstreifenwechsel - Vorfahrtsrecht im Kreisverkehr - „Rechts vor Links“ auf öffentlichen Parkplätzen nur bei ausdrücklicher Vorfahrtsregelung oder eindeutigem Straßencharakter - Ahndbarkeit der Nutzung einer vom Fahrer nicht selbst aktivierten „Blitzer-App“ - Entziehung der Fahrerlaubnis bei Vielzahl von Parkverstößen (hier mindestens 150 Parkverstöße) - Bevorstehendes Inkraftreten einer Straßenverkehr-Transportbegleitungsverordnung

Maßgeblicher Zeitpunkt einer unklaren Verkehrslage bei dem Überholen einer Fahrzeugkolonne

  • § 5 Abs. 3 Nr. 1, 9 Abs. 1 StVO; § 17 StVG

Wer ordnungsgemäß zum Überholen angesetzt hat, darf darauf vertrauen, dass sich kein vorausfahrender Fahrzeugführer verkehrswidrig verhält und vorschriftswidrig ausschert oder nach links abbiegt. Ihm steht der Vorrang gegenüber den Vorausfahrenden zu. Denn von mehreren hintereinander fahrenden Fahrzeugen hat dasjenige Vortritt beim Überholen, das zuerst korrekt hierzu ansetzt. Nichts anderes gilt im Fall einer Fahrzeugkolonne, wonach insbesondere der Versuch, in einem Zug zwei voranfahrende Personenkraftwagen zu überholen, nicht stets eine besonders gefahrenträchtige Fahrweise darstellt, die bei einer nach § 17 StVG zu treffenden Abwägung ins Gewicht fällt.

OLG Celle, Urteil vom 8.6.2022, 14 U 118/21, veröffentlicht in NZV 2023, 46

 

Gefährdung „anderer Verkehrsteilnehmer“ bei Fahrstreifenwechsel

  • 7 Abs. 5 S. 1, § 10 S. 1 StVO; § 7 Abs. 1, § 17 StVG

Nach § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Anderer Verkehrsteilnehmer" ist an sich grundsätzlich jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ist "anderer Verkehrsteilnehmer" aber nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende.

BGH, Urt. v. 8.3.2022, VI ZR 1308/20, veröffentlicht in ZfS 2023, 71

 

Vorfahrtsrecht im Kreisverkehr

  • 8 Absatz 1 a StVO; § 529 ZPO

Ist ein Kreisverkehr an der Einmündung in den Kreis mit den beiden Verkehrszeichen 205 (Vorfahrt gewähren) und 215 (Kreisverkehr) versehen, ist derjenige als vorfahrtsberechtigt anzusehen, der als Erster die Zeichen passiert hat und in den Kreisverkehr eingefahren ist.

OLG Koblenz, Hinweisbeschluss vom 22.9.2022, 12 U 917/22, veröffentlicht in NZV 23, 132

 

„Rechts vor Links“ auf öffentlichen Parkplätzen nur bei ausdrücklicher Vorfahrtsregelung oder eindeutigem Straßencharakter

  • § 1, 8 Abs. 1 Satz 1 StVO

Die Regeln der StVO sind auf einem öffentlich zugänglichen Parkplatz grundsätzlich anwendbar, so dass etwa von den Nutzern des Parkplatzes das sich aus § 1 StVO ergebende Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme zu beachten ist. Unterschiedlich wird in obergerichtlicher Rechtsprechung und Literatur jedoch beurteilt, welche Bedeutung der Vorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO auf öffentlichen Parkplätzen zukommt. Dazu hat der BGH nun Stellung bezogen.

Der BGH ist der Auffassung, dass § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung findet, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt.

Ein Parkplatz ist keine Straße, sondern eine Verkehrsfläche, die - vorbehaltlich spezifischer Regelungen durch den Eigentümer oder Betreiber - grundsätzlich in jeder Richtung befahren werden darf. Parkflächenmarkierungen, die den Platz in Parkplätze und Fahrspuren aufteilen, ändern für sich genommen daran nichts, so dass durch solche Markierungen entstehenden Fahrbahnen kein Straßencharakter zukommt. Die auf Parkplätzen vorhandenen Fahrspuren dienen zudem typischerweise nicht - wie es der Zweckrichtung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO entspräche - der möglichst zügigen Abwicklung des fließenden Verkehrs, sondern der Erschließung der Parkmöglichkeiten durch Eröffnung von Rangierräumen und der Ermöglichung von Be- und Entladevorgängen, wobei die Fahrbahnen regelmäßig sowohl von Kraftfahrern als auch Fußgängern genutzt werden. Eine Bejahung des Straßencharakters und damit eine - dann unmittelbare - Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO kommt daher auf Parkplätzen nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn sich durch die bauliche Gestaltung der Fahrspuren und die sonstigen örtlichen Gegebenheiten für den Verkehrsteilnehmer unmissverständlich ergibt, dass die Fahrbahnen nicht der Aufteilung und unmittelbaren Erschließung der Parkflächen, sondern in erster Linie der Zu- und Abfahrt und damit dem fließenden Verkehr dienen.

BGH, Urteil vom 22.11.2022, VI ZR 344/21, veröffentlicht in DAR 23, 137

 

Ahndbarkeit der Nutzung einer vom Fahrer nicht selbst aktivierten „Blitzer-App“

  • 23 Abs. 1c Satz 3 StVO

Für das OLG Karlsruhe steht außer Zweifel, dass die Tathandlung des „Verwendens“ in § 23 Abs. 1 c Satz 3 StVO kein eigenes aktives Tätigwerden des Fahrzeugführers im Umgang mit dem technischen Gerät bzw. der darin enthaltenen verbotenen Funktion voraussetzt, sondern vielmehr jedes Handeln genügt, mit dem dieser sich die verbotene Funktion zunutze macht. Erfasst wird deshalb auch die Nutzung der auf dem Mobiltelefon eines anderen Fahrzeuginsassen installierten und aktivierten Funktion.

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 07.02.2023, 2 Orbs 35 Ss 9/23, veröffentlicht in juris

 

Entziehung der Fahrerlaubnis bei Vielzahl von Parkverstößen (hier mindestens 150 Parkverstöße)

  • 3 Abs. 1 StVG; § 46 Abs. 1 FeV

Zwar haben die dem Bagatellbereich zuzurechnenden Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich bei der Prüfung der Fahreignung außer Betracht zu bleiben. Davon ist jedoch dann eine Ausnahme zu machen, wenn der Inhaber der Fahrerlaubnis die Rechtsordnung über den ruhenden Verkehr nicht anerkennt. So ist ein Kraftfahrer, der offensichtlich nicht willens ist, auch bloße Ordnungsvorschriften, die im Interesse eines geordneten, leichten und ungefährdeten Verkehrs geschaffen sind, einzuhalten, und der solche Vorschriften hartnäckig missachtet, wenn dies seinen persönlichen Interessen entspricht, zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet.

Dabei kommt ein solcher Ausnahmefall jedenfalls dann in Betracht, wenn über einen längeren Betrachtungszeitraum nahezu wöchentlich Verstöße dokumentiert werden. Besonderes Gewicht gewinnen diese Verstöße, wenn sie an einem bestimmten Ort gehäuft auftreten und der Fahrerlaubnisinhaber damit zu erkennen gibt, dass er seine persönlichen Interessen über das Allgemeinwohl stellt.

VG Berlin, Urt. v. 28.10.2022, VG 4 K 456/21, veröffentlicht in ZfSch 23, 56

 

Bevorstehendes Inkraftreten einer Straßenverkehr-Transportbegleitungsverordnung

Am 29.03.2023 beschloss das Bundeskabinett die „Verordnung zum Erlass einer Straßenverkehr-Transportbegleitungsverordnung und zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ (BR-Drs. 132/23). Bevor die von der Bundesregierung bereits beschlossene Verordnung in Kraft treten kann, muss nun noch der Bundesrat zustimmen.

Um was geht es bei der neuen Verordnung?

Seit Jahren ist ein Anstieg an Großraum- oder Schwertransporten, die aus Gründen der Gewährleistung eines sicheren und geordneten Straßenverkehrs eine Begleitung durch Polizeikräfte erforderlich machen, festzustellen. Das Aufgabenfeld bindet eine Vielzahl von Ressourcen bei den Polizeidienststellen der Länder, die aber anderweitig (zum Beispiel bei der Verkehrsüberwachung des fließenden Verkehrs an Unfallschwerpunkten oder bei der polizeilichen Verkehrssicherheitsarbeit) dringend benötigt werden. Daneben werden Fahrtwege von Großraum- oder Schwertransporten über die Grenzen der jeweiligen Zuständigkeit der Polizeidienststellen im einzelnen Bundesland, aber auch über die Grenzen der Bundesländer hinaus erlaubt bzw. genehmigt. Dies erfordert aufgrund der unterschiedlichen Zuständigkeiten nach Landesrecht eine Übergabe der Transportbegleitung an den jeweiligen Zuständigkeitsgrenzen. Die dadurch entstehende Übergangsphase führt zu unnötigen Störungen des Verkehrsflusses durch geparkte Großraum- oder Schwertransportfahrzeuge. Ferner werden Polizeibeamte oft zu akuten Einsätzen gerufen und sind damit gezwungen, den Transport vorläufig zu verlassen. Damit gehen zusätzliche, nicht absehbare Wartezeiten von Großraum- oder Schwertransportfahrzeugen im öffentlichen Verkehrsraum einher. Der Erlass einer Straßenverkehr-Transportbegleitungsverordnung, mit der die Begleitung von Großraum- oder Schwertransporten durch beliehene Private mit Anordnungsbefugnis an Stelle der Polizei ermöglicht wird, soll dem Problem entgegenwirken. Durch den Einsatz von Transportbegleitungsunternehmen werden die Polizeidienststellen der Länder entlastet. Die dadurch entstehenden Kapazitäten können die Länderpolizei für prioritäre Aufgaben nutzen. Außerdem entsteht ein Zeit- und Organisationsgewinn für Transportunternehmen, da Transporte ohne Zuständigkeitswechsel und durchgehend begleitet werden können. Davon profitieren auch der Verkehrsfluss und die Verkehrssicherheit, da Störungen durch geparkte Großraum- oder Schwertransportfahrzeuge wegen des Wegfalls der Zuständigkeitswechsel der Länderpolizei bzw. wegen des Wegfalls des Abrufens der Transportbegleitung für andere Aufgaben entfallen.